
Die Verquickung von Handel und Gastronomie bietet dem Handel die Chance der Frequenzsteigerung, aber auch der emotionalen Aufladung des Marktes als Marke. Daniel Ohr, Retail- und Gastro-Experte bei Keylens, im Interview.
Immer mehr Lebensmittelhändler setzen auf Gastro-Konzepte am Point of Sale. Unternehmen die Händler aus Ihrer Sicht genug, um das Einkaufserlebnis für die Kunden zu erhöhen?
Pauschal geantwortet nein. Bis vor ein paar Jahren war ja tendenziell die gegenteilige Stoßrichtung das Mantra in der Entwicklung von Handelskonzepten. Notwendige Effizienzüberlegungen, Fokus auf die profitablen Categories und eine immer stärkere Homogenisierung von Produkt- und Serviceangeboten haben erst zum „Nicht-Erlebnis“ geführt. Aktuell gibt es, getrieben durch die erlebte Verschiebung von Marktanteilen hin zu Online-Konzepten einen oft aktionistischen Drang mit Erlebnisangeboten etwas „zu retten“. Da wird dann in der Schnelle viel kopiert, eine ganzheitliche Beschäftigung damit, wie ein Einkaufserlebnis 3.0 aussehen muss, um in einer neuen digital massiv beeinflussten Welt zu reüssieren fehlt meistens.
Sind Gastro-Konzepte aus Ihrer Sicht eine Möglichkeit, mit der sich der stationäre Lebensmittelhandel gegenüber Online-Handel und Discount differenzieren kann?
Zuallererst finde ich, dass die Diskussion nicht sein sollte, wie man sich gegenüber jemand anderem positionieren kann, sondern wie man für seinen Kunden einen Mehrwert leisten kann. Der Handel denkt immer noch viel zu viel in Produkt und Wettbewerb und dann kommt irgendwann der Kunde. Gegen Online kann man sich meiner Meinung nach auch nicht positionieren, da die Grenzen diesbezüglich ohnehin fließend sind. Das heißt, auch wenn man nicht oder wenig Online-Umsatz macht, lebt man trotzdem in einer digitalen Welt und diesem Thema muss sich jeder Händler stellen. Es geht im Kern um ein vom Kunden her gedachtes bzw. konzipiertes Einkaufserlebnis, ganz egal was der Kunde in welchem Kanal macht. Und ja die Gastronomie ist, wenn Sie denn passend zu den jeweiligen Kunden konzipiert, und mit Leidenschaft betrieben wird, ganz sicher ein Ansatz, der echte Kundenerlebnisse generieren kann. Es geht schließlich um Emotion, Begegnung und Interaktion, also alles Kernmotive, um mit der immer dynamischeren und rationalen Umwelt einen Ausgleich zu finden.
Welche Gastro-Services halten Sie im Handel für sinnvoll?
Alle, die einen Kundenmehrwert liefern und zur Zielgruppe passen. Das geht vom gut gemachten Imbiss, um die Aufenthaltsqualität zu erhöhen, über eigenständige Restaurants, die einen eigenständigen Grund liefern, in den Store zu gehen, über Cafés, Champagner- und Bier-Bars bis hin zu ganzheitlichen Konzepten, die bestehende Ware mit Gastronomie verbinden. In Japan gibt es beispielsweise Konzepte, die das Gesundheitsbedürfnis der Kunden so erweitert haben, dass neben der „äußeren Pflege“ wie Kosmetik oder Duft auch „inner health“ angeboten wird. Und das sind dann Wasser-, Tee- sowie Saft-Bars oder Vitaminberatung.
Worin liegt aus Ihrer Sicht die Herausforderung bei In-Store-Gastronomie?
Aus meiner Sicht gibt es vier Hauptthemen. A) Das Konzept muss einen echten Mehrwert liefern, ansonsten funktioniert das Konzept schon mal grundlegend nicht. „Auch“ ein Café oder eine schlecht gemachte Bar in eine wenig produktive Fläche einzubauen ist weder ein echtes Konzept noch erfolgsversprechend. B) Das Thema Flächenrentabilität vs. Erlebnis/Emotion ist wichtig. Wenn man kein gemeinsam erarbeitetes Verständnis von den Wechselwirkungen zwischen Gastronomie und Handelsfläche hat, wird man immer die Gastronomie „wegrechnen“ C) Operative Dinge und Schwierigkeiten wie Öffnungszeiten gilt es zu beachten. Viele Konzepte leben vom Abendgeschäft und da fehlen meistens die Voraussetzungen wie etwa ein separater Eingang. Deshalb braucht man intelligente Konzepte, um diese in der Gesamtbetrachtung profitabel für das jeweilige Handelskonzept zu betreiben. D) Das jeweilige Retailkonzept, die entsprechende Gastronomie und die Zielgruppen müssen zusammenpassen, sonst kommen entweder Gäste in die Gastronomie, die letztendlich keine Cross-selling-Effekte für den Store generieren oder es kommt gleich gar niemand.
Welche Zielgruppen werden mit Gastro-Konzepten angesprochen?
Gegenfrage, welche Zielgruppe ist nicht gastronomisch affin? Also eigentlich erstmal alle. Die Gastronomie hat in den letzten Jahren eine enorme Bedeutungszunahme erfahren, Fernsehköche sind so etwas wie die neuen „Rock-Stars“, haben zum Teil so viel Facebook-Follower wie Top-Blogger, in den letzten Jahren waren immer 4-5 Kochbücher in der Liste der 50 bestverkauften Bücher in Deutschland. Das jeweilige Konzept zielt dann natürlich auf bestimmte Zielgruppen bzw. Kundenbedürfnisse ab. Also Ausruhen, Bequemlichkeit, Aufenthaltsdauer sowie das angenehme Gestalten durch ein bequemes Café vs. Sehen und gesehen werden bei einer Champagnerbar.
Stellt der Gastro-Trend des Handels eine Gefahr für Gastronomie und Gaststätten dar?
Ich glaube eher eine Chance. Letztendlich geht es immer darum, Immobilien, Innenstädte oder Stadtgebiete zu beleben. Je mehr Frequenz in einer Destination steckt, desto mehr profitieren am Ende alle. Das gilt natürlich nur bedingt, wenn alle Konzepte vor lauter „nachmachen“ das Gleiche anbieten.
Worin liegt der Gastro-Trend aus Ihrer Sicht begründet?
Der generelle Gastronomietrend hat sicher etwas damit zu tun, dass Essen und Trinken heute noch mehr für Begegnung und Interaktion stehen, etwas was durch die allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen eher zu kurz kommt. Der Trend im Handel auf Gastronomie zu setzen hat sicher etwas mit der ausgeprägten Benchmark-Freude des Handels zu tun. Erfolgreiche oder vermeintliche erfolgreiche Konzepte werden schnell - oft schlecht - kopiert, damit man das am Ende „ auch hat“. Meine Meinung ist: entweder konsequent oder gar nicht machen. Gastronomische Konzepte bieten eine Riesenchance, zum einen haben Produkte wie Schokolade, Trüffel, Kaffee, Tee, Sekt und Champagner ein enorm hohes emotionales Potenzial. Richtig inszeniert sind das immer kleine Urlaube. Und zum anderen bieten gastronomische Angebote im Rahmen einer intelligenten Marketingstrategie vielfachste Potenziale intelligente Kauf- und Frequenzanreize zu setzen und damit, anstatt in einen Wettbewerb um die höhere Rabattzahl zu treten, einen echten kundenbezogenen Anreiz zu setzen. Dafür braucht man aber ein echtes Commitment und eine wirkliche Strategie für die Einbindung der Gastronomie in das Gesamtangebot. Ansonsten sollte man andere Themen suchen, die das Einkaufserlebnis verbessern und da gibt es noch zahlreiche.