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Zuerst waren explodierende Materialpreise für Bau, Handwerk und Industrie ein Problem, dann griffen Lieferengpässe auf alle Branchen über. Knapp sind vor allem Elektrogeräte und andere Nonfood-Artikel, aber auch bei Lebensmitteln klagen Händler in der Region DACH zunehmend über Engpässe und stark steigende Preise.
Man bitte um Verständnis, dass es «aktuell immer wieder zu logistischen Herausforderungen hinsichtlich grenzüberschreitender Lieferungen kommt, weshalb einzelne Aktionsartikel nicht oder erst später lieferbar sind», teilte ein Discounter in Österreich auf seiner Homepage mit. Bei den nicht verfügbaren Artikeln handelte es sich um typische Importware wie Bad-Möbel und Accessoires, Kinder-Radhelme, Akku-Haarschneider oder Ski-Wäsche. Auch in den Online-Prospekten deutscher Händler fand sich bis Redaktionsschluss immer wieder bei einzelnen Aktionsartikeln der kurzfristig eingeblendete Hinweis, dass sie leider nicht verfügbar sind. Besonders schwierig ist die Situation im Handel mit elektrischen Haushaltsgeräten und Unterhaltungselektronik. Dort kämpfen laut dem ifo Institut fast alle Händler mit Lieferproblemen. Ähnlich sieht es bei den Baumärkten aus. Im Spielwareneinzelhandel hat sich die Lage ein wenig entspannt, aber 77 Prozent berichten dort weiter von ausbleibenden Lieferungen.
Handel doppelt belastet
Die Lieferprobleme haben sich in der zweiten Jahreshälfte 2021 deutlich verschärft. 81,6 Prozent der deutschen Einzelhändler klagten im Dezember, dass nicht alle bestellten Waren geliefert werden können. Im November waren es noch 77,8 Prozent. Das geht aus den Umfragen des ifo Instituts hervor. «Der Einzelhandel wird gerade doppelt belastet», sagt der Leiter der ifo Umfragen, Klaus Wohlrabe. Einerseits könnten Händler nicht alle Produkte anbieten. Andererseits seien Kunden angesichts der hohen Inzidenzen zurückhaltend beim Einkaufen.
Paradoxon in der Industrie
Von Seiten der Industrie ist kurzfristig keine Entlastung zu erwarten. Deren Materialmangel hat sich im Dezember ebenfalls weiter verschärft. 81,9 Prozent der Firmen klagten gegenüber dem ifo Institut über Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen – ein neuer Rekordwert. Im November waren es noch 74,4 Prozent. «Die Situation in der Industrie ist paradox», sagt Klaus Wohlrabe. «Die Auftragsbücher sind voll. Der Materialmangel erlaubt es den Unternehmen aber nicht, ihre Produktion entsprechend hochzufahren.» In nahezu allen Branchen ist die Anzahl der Unternehmen mit Beschaffungsproblemen gestiegen. Besonders betroffen sind die Hersteller von elektrischen Ausrüstungen mit einem Anteil von 94 Prozent. Deutlich verschlechtert hat sich die Lage im Papiergewerbe, wo der Anteil der betroffenen Firmen von 66 auf 89 Prozent gestiegen ist.
Knappe Agrarprodukte
Die deutsche Ernährungsindustrie gerät ebenfalls unter Druck. Die Agrarrohstoffkosten sind einer der grössten Kostenfaktoren für die Lebensmittelproduktion, und steigende Preise wirken sich mittelfristig auf die Verbraucherpreise aus. Im Dezember 2021 stieg der HWWI-Rohstoffpreisindex (Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut) für Nahrungs- und Genussmittel um 2,1 Prozent gegenüber dem Vormonat und lag damit 28,9 Prozent über dem Vorjahreswert. Anselm Elles, Geschäftsführer der AFC Risk & Crisis Consult GmbH, wies im Juni 2021 auf dem Aussenwirtschaftstag der Agrar- und Ernährungswirtschaft noch auf eine andere Problematik hin. Die Corona-Pandemie habe die Lieferketten auch deshalb vulnerabel gemacht, weil Audits nicht stattfinden konnten. Dadurch sei eine Lücke in der Zertifizierung der Betriebe entstanden – mit der Folge, dass vermehrt Qualitätsprobleme auftreten. Elles: «Wenn ich mich auf Zertifikate von vor zwei Jahren verlassen muss, bekomme ich ein mögliches Problem erst mit, wenn das Produkt bei mir im Lager steht oder – noch schlimmer – wenn es bereits ausgeliefert wurde.»
Die Lage in Österreich
In Österreich hatten im November 2021 mehr als drei Viertel aller Handelsbetriebe (78%) mit Lieferverzögerungen oder -ausfällen zu kämpfen. Das zeigt eine repräsentative Befragung vom Handelsverband Österreich und EY. Auch Grosshändler mit Lebensmittelsortiment sind davon betroffen. Dies gilt insbesondere für die Edelteile bei Rindfleisch (z. B. Filet) und mit Abstrichen auch bei Kalb-, Lamm- und Schweinefleisch. Es sei jedoch festzuhalten, dass der Lebensmitteleinzelhandel nicht von derartigen Lieferverzögerungen betroffen ist, betont der Verband. Dass wichtige Fleischproduktionsländer wie die Niederlande und die USA aktuell mit Engpässen kämpfen, wirkt sich dennoch auf die Versorgungslage in Österreich aus. «Die in der Gastronomie nachgefragten Mengen können zurzeit vom heimischen Grosshandel nicht flächendeckend in vollem Umfang abgedeckt werden. Unsere Grosshändler wirken dem Engpass aber gezielt mit dem verstärkten Angebot von österreichischem Rindfleisch entgegen», erklärt Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will. Zuletzt wurden bei vielen Fleischlieferanten Preiserhöhungen von zehn bis 25 Prozent verzeichnet. Die aktuelle Rohstoffkrise etwa bei Hartweizengries sowie die stark gestiegenen Kosten für Treibstoff und Energie wirken sich ebenfalls negativ auf die Lieferketten aus, ebenso der Personalmangel in weiten Teilen der Wirtschaft. Einen Ausweg sieht der Verband in Zukunft in der Stärkung der heimischen Produktion: «Die aktuellen Lieferverzögerungen in den unterschiedlichsten Warengruppen zeigen einmal mehr, wie wichtig eine krisenresiliente Supply Chain mit Fokus auf eine möglichst regionale Produktion in Österreich beziehungsweise Europa ist.»
Die Lage in der Schweiz
Vier von fünf Schweizer Firmen sind derzeit mit Lieferschwierigkeiten konfrontiert und erwarten auch keine schnelle Normalisierung, wie eine Umfrage von economiesuisse zeigt. Betroffen ist fast der ganze Industriesektor, aber auch der Gross- und Einzelhandel leidet unter Lieferproblemen. Waren am Anfang vor allem Produkte aus Asien betroffen, treten die Probleme mittlerweile in nahezu allen Weltregionen auf. Die meist eng mit dem europäischen Markt verflochtenen Schweizer Unternehmen nennen denn auch Europa an erster Stelle – gefolgt von Asien. Doch die Betriebe versuchen gegenzusteuern. Viele Unternehmen haben ihre Lager aufgestockt. Rund die Hälfte der Firmen sucht nach neuen Lieferanten in einem anderen Land. Ein Personalabbau kommt für die meisten nicht infrage, was angesichts eines ausgeprägten Fachkräftemangels wenig überrascht. Die betroffenen Branchen rechnen erst im Verlauf des nächsten Jahres mit einem Ende der Lieferschwierigkeiten. Gleichzeitig erhöhen die steigenden Preise für Rohstoffe, Energie und Vorprodukte das Risiko einer anziehenden Inflation. Economiesuisse warnt: «Dies ist eine gefährliche Entwicklung und könnte die Wirtschaftsaussichten 2022 erheblich trüben.»