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Die Digitalisierung verändert Kunden, lässt Marktstrukturen erodieren, stellt eingeübte Prozesse zur Disposition. Händler müssen sich den Trends stellen und ihre Stärken neu definieren.
Ein Markt ohne Kasse: Bei „Amazon Go“, dem Test-Shop des Online-Weltmarktführers in Seattle, bildet die Smartphone-App das technische Herzstück. Darüber identifiziert sich der Kunde am Eingang, darüber wird der Rechnungsbetrag nach dem Einkauf von seinem Amazon-Konto abgebucht. Der technologische Quantensprung allerdings liegt dazwischen: Eine von Amazon entwickelte Kombination von intelligenter Software, Sensoren und Bilderkennung registriert die Ware automatisch, sobald sie vom Kunden dem Regal entnommen und in den Warenkorb gelegt wird. Manuelles Scannen, manuelles Kassieren entfällt.
Markiert das Amazon-Pilotprojekt den Anfang vom Ende der traditionellen Erfassungs- und Checkout-Prozesse im Einzelhandel? „Nicht mittelfristig, aber auf lange Sicht werden solche Technologien in einigen Handelsbereichen Standard sein“, prognostiziert Dr. Georg Wittmann, Research Director beim Regensburger Marktforscher ibi research. Der Amazon-Shop jedenfalls wirft ein Schlaglicht darauf, wie digitale und mobile Technologien die Handelswelt verändern. Auf Basis der Forschungsergebnisse von ibi research identifiziert Wittmann drei zentrale Entwicklungen, mit denen sich Handelsunternehmer auseinandersetzen müssen.
Handelswelten im Umbruch
1. E-Commerce wächst weiter dynamisch. Nach konservativer Prognose steigt der E-Commerce-Umsatz in Deutschland künftig um im Schnitt jährlich 4,5 Prozent. Er wird im Jahr 2020 die Marke von 50 Milliarden Euro überschreiten und dann einen Marktanteil von rund 10 Prozent am Gesamtumsatz des Einzelhandels einnehmen. Durchaus möglich ist aber auch eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 9,0 Prozent. Damit würde E-Commerce bis 2020 ein Volumen von 64 Milliarden Euro und einen Marktanteil von 13 Prozent erreichen. Den Lebensmittelhandel herausgerechnet, läge der Anteil bei deutlich über 20 Prozent.
Parallel dazu hält der Konzentrationsprozess an. Amazon und wenige weitere Händler mit breitem Sortiment, dazu einige Category-Spezialisten dominieren den Online-Markt des Jahres 2020. Viele kleine Webshop-Betreiber verschwinden. Und die „Online Pure Player“ schaffen sich durch Eröffnung eigener Läden auch stationäre Standbeine. Siehe internationale Marktführer wie Amazon, Zalando und ebay oder nationale Größen wie Notebooksbilliger, Cyperport, mytoys und mymuesli.
Fachhandel unter Druck
2. Stationäre Standorte erodieren. Der stationäre Bereich wird durch ehemals reine Internet-Anbieter ergänzt, verliert aber andererseits viel seiner jetzigen Substanz. Laut Dr. Georg Wittmann könnten bis zu 20 Prozent aller stationären Outlets das Jahr 2020 nicht er- oder überleben. Dies betrifft in erster Linie den nicht filialisierten Nonfood-Fachhandel. Er hat schon zwischen 2000 und 2015 über 40 Prozent seines ursprünglichen Marktanteils eingebüßt. Speziell im Foodhandel wird die Zahl der Outlets, mit Blick auf den noch geringen E-Commerce-Anteil, zwar vorerst stabil bleiben. „Doch auch hier wird sich die Art und Aufmachung der Märkte ändern müssen, und wir werden zunehmend digitale Angebote in den Filialen vorfinden“, so Wittmann (siehe Interview). Der Retail-Experte geht außerdem davon aus, dass sich die Standortwertigkeiten deutlich anders gewichten. Top-Lagen bleiben top, Mittellagen haben zu kämpfen, Nebenlagen werden zu absoluten Problemlagen.
Commerce und Digitalisierung im Foodhandel
3. Prozesse werden digital. Die Kunden des digitalen Zeitalters (siehe Randspalte) erwarten neue Services. Smartphone-gestützte Abläufe wie bei Amazon, digitale und individualisierte Kundenansprache, digitale Coupons und Bons sind nur einige der Stichworte. Im Fokus steht auch die Verknüpfung kanalübergreifender Prozesse. Online-Verfügbarkeits-Check, Bestellung im Web und Abholung in der Filiale, Bestellung im Web bei Nichtverfügbarkeit in der Filiale, Zugriff auf die Bestände in anderen Filialen, Rückgabe online bestellter Ware in der Filiale: Solche Dienste werden zur Selbstverständlichkeit, funktionieren aber nur, wenn die Kanäle warenwirtschaftlich miteinander verbunden sind.
„Die Händler müssen sich diesen Entwicklungen stellen“, folgert Dr. Georg Wittmann. Es gilt, das eigene Geschäftsmodell so zu verändern, dass es den online-getriebenen Anforderungen der Kunden gerecht wird. Digitale Sichtbarkeit, Online-Präsenz, kanalübergreifende Dienste, die Digitalisierung interner Abläufe werden zur Pflicht. In welchem Ausmaß und in welchen Varianten dies geschieht, muss jeder Unternehmer individuell festlegen. Wittmann: „Leider gibt es kein Patentrezept, jeder Händler muss für sich entscheiden, wie er die Vorteile der Digitalisierung nutzt und wie er seine Mehrwert-Angebote für den Kunden neu definiert.“