Umsätze vor Neuverteilung

Donnerstag, 06. Juli 2017

Lange Zeit schien es, dass der Online-Handel mit Lebensmitteln langsam wachsen würde. Jetzt aber könnte Amazon einen Paradigmenwechsel erzwingen. Fachleute sehen den Handel unterZugzwang. 

Der Online-Handel mit Lebensmitteln nahm bislang nur langsam an Fahrt auf, und auch Amazon tat sich mit den komplexen logistischen Herausforderungen der temperaturgeführten Heimzustellung schwer. Dann der Paukenschlag: Im Juni kauft der Online-Riese den Bio-Lebensmittelhändler Whole Foods in den USA für 13,7 Milliarden Dollar (12,3 Mrd. Euro) und zeigt damit, dass es ihm mit dem Einstieg in den Lebensmittelmarkt bitterernst ist. Dabei tritt Amazon jetzt nicht nur mit 465 Lebensmittelmärkten stationär in den Wettbewerb ein, sondern verfügt damit auch über die Infrastruktur-Basis für den Aufbau einer flächendeckenden Frische-Logistikkette. Möglicherweise entsteht hier die Blaupause für den großangelegten Eintritt von Amazon in  den stationären und digitalen Lebensmittelhandel in anderen Ländern mit entsprechendem Wettbewerbsdruck. Viele Anteilseigner der internationalen börsennotierten Einzelhändler reagierten jedenfalls am Tag der Bekanntgabe dieses Amazon-Coups geschockt und schickten die Kurse – vorübergehend - teils zweistellig in den Keller. 

Amazon bringt Bewegung in Onlinehandel

In Deutschland schauen Marktforscher und Einzelhändler einstweilen  gespannt nach Berlin, wo Amazon Fresh seit Juni das gesamte Stadtgebiet und Potsdam mit FMCG und frischen Lebensmitteln beliefert. Der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandel (BVLH) wertet diesen Vorstoß als Zäsur im bislang zögerlichen Online-Geschäft mit Lebensmitteln: „Der Einstieg von Amazon Fresh in den deutschen Markt wird aus unserer Sicht Bewegung in den Onlinehandel mit Lebensmitteln bringen.“ Allerdings sieht der BVLH auch große Hürden auf dem Weg einer flächendeckenden Präsenz Amazons im deutschen Lebensmittelmarkt. Auf Grund des bisher räumlich nur eingeschränkten Zugangs zu Amazon Fresh sowie der „nicht unerheblichen finanziellen Einstiegshürden“ bleibe es abzuwarten, wie erfolgreich dieses Format ist. 

Andere Branchenkenner warnen den etablierten Lebensmittelhandel allerdings davor, sich die Amazon-Aktivitäten erst einmal in Ruhe anzuschauen. „Die deutschen Lebensmittelhändler haben beim Online-Handel Nachholbedarf: Noch sind sie nicht ausreichend vorbereitet für den Eintritt von Amazon Fresh in den deutschen Markt, der unweigerlich Umverteilungsdynamiken auslösen wird“, meint Dr. Mirko Warschun, Leiter des Beratungsbereichs Konsumgüterindustrie und Handel bei A.T. Kearney. Online Food Retailing (OFR) biete nicht nur neue Marktpotenziale, sondern sei auch eine Bedrohung für den stationären Handel, der Umsatz an das Internet verlieren werde: „Die deutschen Einzelhändler müssen online rasch Boden gut machen, sonst wird ihnen im Internet das Wasser abgegraben“, so Warschun.

Umsatzpotenzial des deutschen OFR-Marktes bei 12 Milliarden Euro 

Die Managementberatung A.T. Kearney untersucht seit 2011 den europäischen Markt für OFR. In der jüngsten Untersuchung wurden 2016 mehr als 2.300 Konsumenten in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz befragt. Zwölf Milliarden Euro beträgt das Umsatzpotenzial des deutschen OFR-Marktes, sollten die Deutschen Lebensmittel so fleißig im Internet einkaufen wie die Briten, die hier besonders aktiv sind. Noch aber bildet Deutschland das europäische Schlusslicht mit nur einem Prozent Online-Anteil am gesamten Lebensmittelumsatz. Im Vorreiterland Großbritannien sind es 4,2 Prozent. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man die Pro-Kopf-Ausgaben zwischen Spitzenreiter Großbritannien und Nachzügler Deutschland vergleicht: Dort geben die Konsumenten jährlich 154 Euro für Lebensmittel im Internet aus, hierzulande gerade einmal 18 Euro. Geht man nur von einer Verdoppelung des OFR-Marktes aus, entspricht das immerhin 1,9 Milliarden Euro Umsatzvolumen – Einkünfte, die den Einzelhändlern verloren gehen, wenn sie es nicht schaffen, online Marktanteile zu erobern.

Deutsche Lebensmittelhändler haben offenbar Mühe, Kunden online zu gewinnen und zu halten: 98 Prozent der befragten Deutschen kennen zwar OFR, aber mehr als die Hälfte hat noch nie Lebensmittel online bestellt. 23 Prozent der Online-Shopper waren mit Service oder Qualität nicht zufrieden, und ein Viertel hat sich sogar wieder ausschließlich dem stationären Handel zugewandt.

Internet für die Planer, Läden für spontane Kunden

Vor allem von den britischen Best Practices könne der deutsche Einzelhandel lernen, seinen Kunden den Weg ins Internet zu weisen, so die Autoren der Studie. Denn: „Es wird nicht reichen, massiv in Online-Angebote zu investieren, sondern es bedarf einer zielgerichteten Erfolgsstrategie, die zentrale Einflussfaktoren, affine Käuferschichten, relevante Kategorien und Kundenbedürfnisse sehr genau berücksichtigt.“ Und da sei der britische Handel auf gutem Wege.

Bislang glaubte man, dass es vor allem die Unzufriedenheit mit dem stationären Handel ist, die die Kunden ins Internet treibt. Das trifft laut Studie nicht zu. Zum einen ist die Zufriedenheit der deutschen Kunden mit ihrem stationären Supermarkt sehr hoch, zum anderen führen ganz spezielle Beweggründe zur Online-Bestellung. Kurzformel: Wer den Einkauf im Voraus plant, kauft seine Lebensmittel gerne im Internet. Die Spontanen gehen lieber in den Laden. In Großbritannien plant indes jeder zweite Verbraucher seinen Einkauf. In Deutschland ist es nur jeder vierte. Mit anderen Worten: Die Kernzielgruppe der Lebensmittel-Onlineshops ist in Großbritannien doppelt so groß wie in Deutschland.

Qualität, Service und Besonderheiten werten Onlinehandel auf

Die typischen OFR-Nutzer sind, wie die Studie weiter zeigt, zwischen 25 und 54 Jahren alt, besserverdienend (verfügbares Monatseinkommen mindestens 2.500 Euro) und mit wöchentlichen Lebensmittel-Ausgaben von mehr als 80 Euro alles andere als sparsam. Was die beim Internetkauf bevorzugten Produktkategorien angeht, zeigt sich größere Skepsis bei frischer Ware, während haltbare Produkte ohne Zögern per Mausklick bestellt werden. Die größte Hürde für OFR sind in Deutschland die Versandkosten: Fast die Hälfte der Befragten nennt sie als wesentlichen Grund, ausschließlich weiterhin im Laden zu kaufen.

Punkten können die Lebensmittelhändler im Internet mit Qualität, Services und Besonderheiten, die den Einkauf zu einem besonderen Erlebnis machen. „Die Briten zeigen, wie es geht“, heißt es in der Studie: zum Beispiel mit Ernährungsplänen, deren Zutaten schon im Online-Wagen liegen, einer smarten Suchfunktion für die Einkaufsliste oder einem Echtzeitpreisvergleich mit relevanten Wettbewerbern. Deutschland und die Schweiz haben bei den zusätzlichen Features im Internet hingegen noch „eklatanten Nachholbedarf“, diagnostiziert A.T. Kearney.

Rahmenbedingungen für OFR werden immer besser 

„Online Food Retailing wird für die deutschen Lebensmittelhändler nur dann zum Erfolgsmodell, wenn sie sich erstens auf die OFR-affine Zielgruppe und die richtigen Produktkategorien konzentrieren. Zweitens gilt es durch Information, Qualität und besondere Features ein einzigartiges Online-Erlebnis zu schaffen“, sagt Dr. Mirko Warschun. OFR zu ignorieren, könnten sich die Lebensmittelhändler in Deutschland nicht leisten: „Der deutsche ORF-Markt ist so attraktiv, dass mit einem scharfen Wettbewerb zu rechnen ist, der auch vor dem stationären Handel nicht Halt machen wird.“ Nur wenige Monate nach dieser Prophezeiung ließ Amazon zunächst in den USA Taten folgen - mit der Whole-Foods-Übernahme und dem Einstieg in den stationären Lebensmittelmarkt. Fast zeitgleich begann Amazon auch in Deutschland damit, sein Lebensmittelgeschäft zu forcieren, zunächst im Großraum Berlin. Der Zeitpunkt 

Dass die Rahmenbedingungen für OFR in Deutschland immer besser werden, zeigen aktuelle Marktzahlen. Der Online-Handel wird nach HDE-Prognosen seinen Umsatz 2017 um rund zehn Prozent auf 48,7 Milliarden Euro steigern. Das entspricht knapp zehn Prozent des Umsatzes im deutschen Einzelhandel, der 2017 insgesamt 493 Milliarden Euro erzielen dürfte. Mit plus 21 Prozent überproportional wachsen konnte schon 2016 der digitale Handel mit Lebensmitteln, auch wenn sein Anteil am gesamten Online-Geschäft derzeit noch unter einem Prozent liegt. „Der Einstieg von Internet-Pure-Playern in den Handel mit Lebensmitteln verstärkt noch einmal den Druck auf die Supermärkte“, sagt Stephan Tromp, stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim HDE. Tromp hält ein unterschiedliches Tempo in den einzelnen Sortimenten für wahrscheinlich: „Der Versand von Drogeriewaren oder Getränken stellt weniger Ansprüche als der von frischen Lebensmitteln.“ 

News

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Vom 24. bis 25. April findet das 125. Markant Handelsforum statt. Zu erwarten sind neben zeitaktuellen Vorträgen und Innovationen für den POS auch ein praxisnaher Austausch.

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Tegut hat das Jahr 2023 mit einem Nettoumsatz von 1,28 Milliarden Euro abgeschlossen und damit das Ergebnis des Vorjahres um 2,44 Prozent übertroffen.

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Nach einem Einbruch zu Jahresbeginn stabilisiert sich die Konsumstimmung in Deutschland jetzt wieder.

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In Österreich können biologische Lebensmittel trotz allgemeiner Teuerungen auf treue Verbraucher zählen.

Info

Handel braucht schnelles Internet

Für die Unternehmen in Deutschland ist und bleibt die Digitalisierung ein Topthema. 42 Prozent geben bei der aktuellen Unternehmensbefragung der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) an, Digitalvorhaben zu planen. Im Einzelhandel liegt dieser Wert mit 48 Prozent überdurchschnittlich hoch. „Gerade im Online-Handel bauen große Unternehmen und stark wachsende junge Betriebe ihre Marktanteile aus. Das setzt nicht zuletzt den Fachhandel immer stärker unter Druck“, sagt HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE). Der Hauptgrund für entsprechende Aktivitäten liegt darin, Chancen zu nutzen und auf Kundenbedürfnisse einzugehen. Insbesondere Einzelhandelsunternehmen reagieren damit auch auf einen stetig steigenden Wettbewerbsdruck.

Im Einzelhandel behindern laut der Umfrage neben internen Schwierigkeiten auch die mangelnde Qualität der Internetverbindung die Digitalisierung. „Leistungsfähige Infrastrukturen in Form breitbandiger Internetanschlüsse sind ein Schlüsselfaktor für den Handel 4.0“, so Genth. Der Einzelhandel fordert deshalb eine Beschleunigung des Glasfaserausbaus. Dabei müssten Klein- und Mittelstädte sowie der ländliche Raum Vorrang haben.

 

Tipps

Erfolgreiche Einzelhandelskonzepte müssen konsequent kundenzentriert ausgerichtet sein. Insgesamt sechs Trends hat das Institut für Handelsforschung IFH Köln zusammengestellt und liefert damit Denkanstöße für erfolgreichen Einzelhandel.

1. Handel agiert am Kunden vorbei
Viele Maßnahmen des Handels kommen bei Kunden nicht an – beispielsweise wissen 20 bis 25 Prozent der Kunden nicht, ob ein Online-Shop bzw. ein Geschäft von dem Händler existiert, bei dem sie gerade gekauft haben. 

2. Das Ende der klassischen Customer Journey
Einkaufsprozesse verändern sich dramatisch, und neue Geschäftsmodelle unterbinden die klassische Customer Journey immer mehr.

 3. Handel sucht Frequenz und bringt keine mehr
Nur noch wenige Händler sind selbst Besuchermagneten – das Umfeld entscheidet.

4. Dynamik spaltet Stadt und Land
Technologievorsprung und Konsumentenanforderungen führen nachfrageseitig zu einer Zweiklassengesellschaft zwischen Metropolen und ländlichen Regionen.

5. Hersteller fordern etablierte Händler heraus
Der Einzelhandel muss zunehmend um seinen exklusiven Kundenzugang fürchten.

6. Personal als Sargnagel des Handels
Investitionen in qualifiziertes Personal sind überlebensnotwendig, damit es gerade im digitalen Zeitalter der entscheidende Erfolgsfaktor sein kann.

„Unsere sechs definierten Trends bringen vielfältige Konsequenzen für den Handel mit sich. So bedingt der aktuelle Wandel beispielsweise ausnahmslos ein analysebasiertes Kundenverständnis und nachhaltige Kundenbindungssysteme für echte Kundenzentrierung“, sagt Dr. Kai Hudetz, Geschäftführer des IFH Köln.

 

Info

Amazon mischt den Markt auf

Seit Anfang Juni 2017 ist der Lebensmittellieferservice AmazonFresh in ganz Berlin und Potsdam verfügbar. Bis mittags bestellt, soll die Lieferung zum Abendessen dasein. Kunden können auch bis 23 Uhr bestellen und die Ware am nächsten Tag in einem gewählten 2-Stunden-Fenster erhalten. 

Neben Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch, Milch- und Kühlprodukten sowie frischen Backwaren bietet AmazonFresh rund 6.000 Bio-Produkte, eine große Auswahl an glutenfreien, laktosefreien oder veganen Artikeln, Baby-, Gesundheits- und Kosmetik-Artikel sowie Tierbedarf. In der eigenen Frischetheke werden internationale Wurst- und Käsespezialitäten frisch aufgeschnitten. Kunden können bei der Bestellung sogar bestimmen, ob sie ihren Aufschnitt hauchdünn, dünn oder etwas dicker erhalten wollen. Unter den über 100.000 Artikeln sind Markenartikel, Eigenmarken-Produkte von tegut und mehrere hundert Produkte von über 25 Berliner Läden wie Lindner Esskultur oder Sagers Kaffeerösterei. 

Die Übernahme der Bio-Supermarktkette Whole Foods in den USA ist ein weiterer großer Schritt Amazons in den Lebensmittelmarkt – online und offline. In den USA testet der Konzern bereits stationäre Ladenformate in mehreren Warengruppen, darunter Lebensmittel, Bücher und Möbel. Mit Whole Foods kommt nun erstmals eine große Filialkette des klassischen stationären Einzelhandels mit rund 460 Läden in Nordamerika und Großbritannien hinzu. 

Im ersten Quartal 2017 steigerte Amazon seine Umsätze gegenüber dem ersten Quartal 2016 weltweit um 23 Prozent auf 35,7 Milliarden US-Dollar (32,13 Mrd. Euro). Der Gewinn kletterte netto um 41 Prozent auf 724 Millionen Dollar (652 Mio. Euro). Für das zweite Quartal 2017 erwartet der Konzern ein weiteres Umsatzwachstum zwischen 16 und 24 Prozent auf 35,25 bis 37,75 Milliarden Dollar (31,7 – 33,96 Mrd. Euro).