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Der Handel muss sich auf umfassendere Service-Wünsche seiner Kunden einstellen. Damit steigen auch die Überlebenschancen des stationären Handels deutlich. Diese Prognose stellt der «Retail Report 2020».
Der Handel im Jahr 2020 – zahlreiche Visionen formten sich um dieses magische Jahr: Drohnen, die Pakete ausliefern? Virtual Shopping via QR-Code? Roboter, die den Verkäufer überflüssig machen? Nein – «die nahe Zukunft ist viel menschlicher als vor zehn Jahren noch gedacht», sagt Theresa Schleicher vom Deutschen Zukunftsinstitut, die kürzlich den neuen «Retail Report 2020» veröffentlicht hat. Gerade der kleine Einzelhändler könne davon profitieren, dass immer öfter «das Besondere, das Handgemachte, das Regionale» gewünscht wird und dass Produktion und Herkunft der Ware «transparent nachvollziehbar» sein sollten.
Vor etwa zehn Jahren prallte die Digitalisierung auf die Handelswelt. Und zwar so immens, dass sich Viele die Frage stellten, ob der Handel offline überhaupt eine Zukunft hat. Im Jahr 2010 lag das Wachstum des E-Commerce-Umsatzes im Vergleich zum Vorjahr bei knapp 30 Prozent. Während die Möglichkeiten im Netz überhöht wurden, schienen die kleinen, inhabergeführten Geschäfte dem Untergang geweiht. «Doch heute sehen wir: Beim Wettkampf Online gegen Offline ging nicht einer der beiden als Sieger hervor, sondern es kam zu einer Vermischung», heisst es in der Studie. Denn beide Welten haben ihre Vorzüge, und in der Kombination bieten sie die besten Shopping-Erlebnisse. Multi-Channeling und Omnichanneling wurden zur Maxime, Mobile Commerce wurde zum Hoffnungsträger, die Smartphone-affinen Konsumenten in die Läden zu locken. «Die Revolution im Handel war eine Evolution, bei der sich die anpassungsfähigsten und innovativsten Player – ob gross oder klein – prima platzieren konnten», fasst das Zukunftsinstitut zusammen. Man könne die «Wiederverzauberung des realen Verkaufsortes» geniessen und die «Vorzüge des Überall-Verkaufs» erleben.
Die besten Shopping-Erlebnisse
Instant Shopping lässt die Distributionskanäle endgültig verschmelzen. Dem ungeduldigen Konsumenten geht es letztendlich um eine möglichst schnelle Verfügbarkeit von Produkten und Services, die er jetzt, in diesem Moment nutzen möchte. Diese Entwicklung bietet vor allem stationären Händlern mit einem physischen Angebot neue Chancen der Kundenansprache, etwa mit smarten mobilen Angeboten und Services, die sich dort finden, wo der Kunde gerade unterwegs ist. Im Zeitalter des ungeduldigen Konsumenten wird es künftig allerdings immer wichtiger, dass Händler sowohl on- als auch offline schnelle und unkomplizierte Lösungen bieten und «on the go» oder «to go» noch stärker als Chance begreifen. Erfolgreich werden diejenigen Händler sein, die selbst höchst spontan und serviceorientiert sind.
Viel mehr als bisher wird deshalb künftig auch das Erlebnis pro Quadratmeter zählen – und nicht mehr die Flächenproduktivität allein. Viele der Händler, die heute erfolgreich sind, verkaufen nicht mehr nur Waren, sondern Erlebnisse. Während Shopping-Webseiten laut Retail Report «selten atemberaubend sind», haben stationäre Geschäfte den grossen Vorteil, beim Kunden einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen – «live und in Farbe». Im steigenden Wettbewerb gilt heute mehr denn je: Von dem Moment an, in dem ein Kunde einen Laden betritt, muss er überrascht und begeistert werden. Auch kleine Design-Entscheidungen können dafür ausschlaggebend sein. Besonders jüngere Konsumenten lassen sich für erlebnisreiche oder spielerische Einkäufe begeistern.
Mutige Aktionen wagen
Black Friday, Cyber Monday, Singles’ Day: In regelmässigen Abständen erfindet der Handel neue Shopping-Feiertage mit Rabattaktionen, und die Konsumenten sind begeistert – noch. Schon heute zeigen sie Ermüdungserscheinungen bis hin zu einer skeptischen Einstellung. Event-Shopping muss künftig mehr sein als nur Schnäppchenjagd und Rabattschlacht. Das Ereignis muss im Fokus stehen, der Einkauf wieder zu einem besonderen Erlebnis werden. Das Event-Shopping bietet die optimale Möglichkeit, der Fantasie freien Lauf zu lassen und mutige Aktionen zu wagen – vor allem im stationären Handel.
Die Transformationsprozesse werden auch das Immobilienmanagement betreffen, lautet eine weitere Trendprognose: «Die Zeiten von starren Store-Konzepten sind vorbei. Händler müssen ihre Verkaufsflächen dem Standort und seinen Bedingungen anpassen.» Die wachsende Macht der Städte sei hierbei nicht zu unterschätzen. Inzwischen haben bereits zahlreiche Grossstädte in Deutschland prüfen lassen, ob und wie viele eingeschossige Gebäude des Lebensmitteleinzelhandels überbaut werden können. Wer als Einzelhändler weiter expandieren will, ist also angehalten, von Beginn an Mischnutzungskonzepte mitzudenken. Aus dem Regal direkt in die Tasche: Was früher einem Ladendiebstahl gleichgekommen wäre, wird heute als Revolution des Einkaufens gefeiert. Ob per App, Fingerabdruck oder Wearable: Innovative Konzepte zeigen, wie in Zukunft gezahlt werden kann. Der Bezahlvorgang rückt in den Hintergrund, das Shopping-Erlebnis gewinnt an Bedeutung.
Gen Z prägt des Handel neu
Gerade im Bargeld-Land Deutschland können sich Händler einen Vorteil verschaffen, indem sie sich schon heute neuen Technologien öffnen. Einerseits, um eine internationale Kundschaft anzusprechen, andererseits, um dem unumgänglichen Wandel vorzugreifen. Denn, so der Trendreport: «Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass dieser Umbruch auch hierzulande geschieht – wenn auch langsamer und zurückhaltender als in anderen Ländern.» Eine entscheidende Rolle bei der künftigen Ausrichtung des Handels spielt aus Sicht der Studienautoren der Umgang mit den jungen Konsumenten: «Während zahlreiche Handelsunternehmen all ihre Konzentration, Kraft und finanziellen Mittel in die Digitalisierung stecken, laufen sie Gefahr, sich an den Ansprüchen der jungen Shopper der Generation Z vorbei zu digitalisieren.»
Zwar sind das World Wide Web und der E-Commerce älter als die «Gen Z», doch geht es den jungen Menschen, die zwischen 1997 und 2012 geboren wurden, um mehr als Vernetzung. «Sie ist konsequent im Umsetzen ihrer Werte», unterstreicht der Retail Report einen wesentlichen Charakterzug, der auch den Konsum berührt. «Die ältere Generation Y hat durch ihr ständiges Hinterfragen der jüngeren Generation Z den Weg geebnet, neue Werte wie Sinn vor Karriere, Bio-Bewusstsein oder den Gender Shift auch zu leben.» Die jungen Konsumenten legen mehr Wert auf ein intaktes Umfeld als auf die Optimierung des individuellen Lebenslaufs und sind Verfechter der Wir-Kultur. «Das Mindset dieser Generation wird die Handelswelten von morgen prägen», kommentiert das Zukunftsinstitut. «Es wird Zeit, dass sich auch der Retail seiner Verantwortung bewusst wird.»