Thesen der Studie
- In wenigen Jahren werden die Digitalisierung und die damit verbundenen Entwicklungen auch in der Lebensmittelbranche eine Selbstverständlichkeit sein und hyperpersonalisierte Angebote ermöglichen. Wer aber nur die technologischen Innovationen im Blick hat, läuft Gefahr, die Gesamtstrategie aus den Augen zu verlieren.
- Das Upgrading im Lebensmittelhandel wird sich in Zukunft weiter fortsetzen: Discounter wandeln sich zu Supermärkten, Supermärkte zu hybriden Gastro-Retail-Erlebnisorten. Der harte Preiskampf verlagert sich immer mehr ins Internet. Reine Versorgungseinkäufe finden künftig häufig (teil-)automatisiert über digitale Assistenten statt – dafür muss nicht mehr unbedingt ein Laden betreten werden.
- Erfolgreich werden in Zukunft Unternehmen sein, die ihren Kunden nicht nur individuell zugeschnittene Einkaufs- und Zustelllösungen für Lebensmittel, sondern je nach Situation und Lebenslage die insgesamt beste Esslösung bieten.
- Handel, Gastronomie, Entertainment und Events verschmelzen immer mehr. Der klassische Point of Sale wird zum „Point of Destination“: vom Ort des Verkaufens zum Ort der Wünsche und Sehnsüchte. Reine Verkaufsorte verschwinden zunehmend.
- Durch die künftig eingespielte Verzahnung von Mensch und smarten Technologien entstehen neue Räume, neue Märkte, in denen Emotionen, sinnliche Erlebnisse und Interaktionen zwischen Menschen wieder eine grössere Bedeutung gewinnen.
Von der Vorratskammer zum Marktplatz
Wenn Daten nicht nur gesammelt, sondern auch intelligenter verarbeitet werden, wenn E-Commerce und Home Delivery für viele Verbraucher auch bei Lebensmitteln selbstverständlich werden, dann naht das Ende des Supermarkts, wie wir ihn kennen – so eine Prognose der Studie «Retailution – Von der Einkaufsunordnung zur optimalen Esslösung» des Zukunftsinstituts. Dann würde den Verbraucher das Sortiment im Supermarkt mit seinen durchschnittlich circa 10.000 Artikeln, von denen er meist nur zehn bis zwanzig wirklich braucht, nicht mehr interessieren. Dann würde es nur noch um personalisierte Einkaufslisten und um passende, auf die Person abgestimmte Vorschläge gehen.
Handelskonzepte verschmelzen
Ob Bio-Supermärkte, Discounter, Food-Lieferdienste, Vollsortimenter, Shopping-Mall oder regionaler Erzeuger – Lebensmittel gibt es heute an jeder Ecke zu kaufen, für alles gibt es das passende Geschäft. Doch die schöne Einkaufswelt der Optionen überfordert die Verbraucher – so eine These der Studie. «Sie wünschen sich nicht ein überbordendes Angebot, sondern einfache Esslösungen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind», erklärt Janine Seitz. Denn längst tätigt nicht nur allein die Ehefrau und Mutter die Einkäufe, je nach verfügbarer Zeit besorgen die Einkäufe auch der Partner oder die Kinder. Dabei entscheidet jeder nach anderen Kriterien und sieht sich einer Fülle an Einkaufsalternativen gegenüber. Ferner kaufen Kunden in vielen Ländern häufiger ein als früher, bedingt durch das flexiblere Leben. Somit erfolgen Lebensmittelkäufe spontaner und weniger einem strikten Wochenplan. Vor allem auf die grosse Zahl der Singles trifft dies zu, für die selbst zu kochen immer weniger zum Alltag gehört. Ferner steigen die Ausgaben für den Ausser-Haus-Verzehr, was wiederum der LEH zu spüren bekommt.
Hinzu komme, dass das Einkaufsverhalten immer mehr dem jeweiligen Medienverhalten gleiche. Die abonnierte Tageszeitung genügt nicht mehr, zusätzlich wird im Internet gesurft, Posts auf Instagram und Facebook gefolgt und auf unzähligen News-Portalen nach weiteren Neuigkeiten gesucht. Dies sorgt für mehr Informationen, aber auch für weniger Überblick – so ein Ergebnis der Studie. Der Verbraucher bliebe gestresster und verunsicherter zurück.
Wertkongruenter Einkauf
Die Wünsche, Gewohnheiten und Werte lassen sich nicht mehr aus simplen demografischen Mustern ableiten. Denn neben den veränderten Arbeitsrhythmen und Zeitverwendungsmustern erschüttern zunehmend auch Internet, E-Commerce und in dem Kontext auch die digitalen Technologien die etablierten Kauflandschaften. «Das Massenmarktmodell verliert an Attraktivität, weil die unterschiedlichen Kundenbedürfnisse dank neuer Technologien, Datenverarbeitung und intelligenter Algorithmen personalisierter beantwortet werden können», so die Studie.
Ein weiteres Ergebnis der Studie: Der Handel steckt in einer Krise, da eine klare Zukunftsperspektive fehlt. «Es naht das Ende des Supermarktes, wie wir ihn kennen, da die Handelskonzepte immer mehr verschmelzen», erklärt dazu Janine Seitz, Co-Autorin des Retail-Reports «Retailution – Von der Einkaufsunordnung zur optimalen Esslösung» des Zukunftsinstituts. So würden Tankstellen zu Minimärkten, Restaurants zu Lebensmittelhändlern und Supermärkte immer mehr zu «Grocerants», in denen es nicht nur frische Lebensmittel zu kaufen gibt, sondern auch frisch zubereitete Speisen. «Zu dieser Verschmelzung der klassischen Handelskonzepte im stationären LEH gibt es inzwischen eine Vielzahl von Nischenkonzepten wie etwa Unverpackt-Läden, Dorf-Läden oder unbemannte Stores, hinzu kommt ein wachsendes Angebot an Online-Anbietern und Lieferservices für Lebensmittel», stellt Seitz fest. Die Komplexität steigt, der Wunsch nach einfachen Lösungen wird immer grösser.
Digitale Assistenten für teilautomatisierten Einkauf
«Ein Umdenken ist zwingend notwendig. Es geht nicht mehr um das vielfältigste Angebot, es geht immer mehr darum, dem Kunden Service zu bieten. Denn Waren in den Einkaufskorb zu legen, geht auch prima per Mausklick», erklärt die Autorin. Ein grosses Thema sei auch der Preis. «Wir sehen, dass es eine Entwicklung hin zu wert-voll statt preis-wert gibt. Der harte Preiskampf verlagert sich ins Internet. Reine Versorgungseinkäufe können künftig auch zumindest teilautomatisiert über digitale Assistenten erfolgen», so Seitz.
Künftig gilt es also, Service-Benefits und gute Content-Kommunikation zu bieten, um den Kunden an den Markt zu binden. Produkt- und Servicequalität, aber auch eine glaubwürdige, werteorientierte Unternehmenskultur spiele hierbei eine gewichtige Rolle. Es gehe darum, ein für den Kunden wertekongruentes Einkaufen zu erleichtern. In der Kuratierung des Angebots sieht Seitz dabei die grösste Chance. «Kuratierung setzt voraus, dass der Händler seine Kunden kennt oder sich ganz klar mit seinem Angebot auf eine Zielgruppe spezialisiert», sagt Seitz. Es gehe nicht um die grösste und beste Auswahl, sondern um die Auswahl, die für einen Kunden individuell ansprechend und auf seine jeweilige Situation, in der er sich gerade befindet, zugeschnitten sei.
Apps helfen bei Produktsuche am POS
Kuratierung im Kontext der Kundenführung durch das Geschäft kann das Einkaufen ebenfalls vereinfachen und bequemer machen. So testet die niederländische Supermarktkette Albert Heijn in der Filiale in Hoofddorp die App «Finde mein Produkt», über die sich schnell und einfach das gewünschte Produkt finden lässt. Auf der Übersichtskarte wird dann der Weg zum Regal angezeigt. Mit der App «OptUP» bietet der amerikanische Supermarkthändler Kroger eine innovative datengesteuerte Lösung, die dem Kunden hilft, fundierte und gesündere Kaufentscheidungen zu treffen. Zudem kann der Kunde darüber personalisierte Produktempfehlungen erhalten.
Es gilt also, dem Kunden Orientierung im Einkaufsdschungel zu bieten und ihn dabei auch an die Hand zu nehmen. In dem Zuge gewinnen Beratung und vor allem die Interaktion mit ihm an Bedeutung. Das multisensorische Erlebnis frischer Lebensmittel sowie das authentische, persönliche Gespräch von Mensch zu Mensch ist von den digitalen Kanälen nicht zu toppen. «Sinnliche Erlebnisse spielen daher in einer digitalen Welt eine immer grössere Rolle etwa in Form von Verkostungen.“ Ausserdem stellt Seitz fest: «Reine Verkaufsorte verschwinden zunehmend: Handel, Gastronomie und Events verschmelzen immer mehr: Supermärkte werden dann zu Orten, an denen man sich gerne trifft – hierfür müssen natürlich die Voraussetzungen geschaffen werden.»
So wird in Zukunft die Trennlinie nicht mehr zwischen online und stationär liegen, sondern vielmehr zwischen «Replenishment-Shopping» (Nachschub) und «Experience-Shopping». Standardvorräte werden von persönlichen Roboter-Ássistenten erledigt. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr der Erwerb von Produkten, sondern die Inspiration, die soziale Interaktion und das Erlebnis.
Fazit der Studie
Supermärkte sind also dabei, ihre klassische Funktion zu verlieren und damit auch ihre gesamte Architektur und Inszenierung zu verändern. Oder sie werden gänzlich von der Bildfläche verschwinden und wieder durch kleinere Feinkostgeschäfte und Shopping-Clubs ersetzt werden. Ganz gewiss dienen sie in Zukunft nicht mehr als riesige Vorratskammer, in den sich Konsumenten bedienen, sondern primär als „Marktplatz“ im weiteren Sinn. Als Ort, an dem sich Menschen treffen, unterhalten und geniessen, an dem nicht mehr der Erwerb von Produkten, sondern die Inspiration, die soziale Interaktion und das Erlebnis im Mittelpunkt steht.